„Du sollst!“ – Wie unsere Sprache die der Kinder beeinflusst
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„Du sollst!“ – Wie unsere Sprache die der Kinder beeinflusst

„Ziehst du dir jetzt bitte die Schuhe an? Wir wollen endlich los!“, sage ich so oder so ähnlich gefühlt jeden zweiten Morgen. Logisch, denn ich habe zeitgleich Termine und Abfahrtszeiten der Bahn im Kopf, denke darüber nach, ob das mit dem rechtzeitigen Abholen und dem anschließenden Arztbesuch noch klappt, und packe nebenbei meine eigene Tasche. Die Retour aus Höhe des Fußbodens folgt sofort: „Nein, du sollst!“. Deshalb hier nun ein kurzer Ausflug in die Gefilde der Sprache…

Kommt euch das Beispiel oben bekannt vor? Und dann dieses Gefühl von „Hey, bitte nicht in diesem Befehlston!“

„Ja, gleich!“: die Kinder lassen mich warten

Aber ich habe noch ein Beispiel: ich stelle fest, dass sich eins der Kinder Essen gemacht, dann aber die Küche nicht aufgeräumt hat. Mal wieder … (wo war noch dieser augenrollende Smiley zu finden?). Also bewege ich mich Richtung Kinderzimmer, die Essensauswahl legt schnell nahe, welches Kind anzusprechen ist, und bitte darum, wieder den alten Zustand der Küche herzustellen. „Ja, gleich…“, bekomme ich als Antwort zu hören. Wobei es eher klingt wie „glaaheichhhh“. (Nochmal der Smiley, ihr wisst schon…)

Dieses Spiel wiederholen wir nun alle 5 bis 10 Minuten. Mein Tonfall wird dabei immer gereizter, doch der des Kindes ebenfalls. Irgendwann ist einer von uns beiden sauer, im Idealfall sogar alle beide. Und mit etwas Glück bleibt am Ende sogar noch etwas Geschirr heile.

Und täglich grüßt das Murmeltier

So ungefähr laufen jeden Tag bei uns vereinzelte – nennen wir es mal – Gespräch ab. Und lange Zeit habe ich mich als den Geduldigen, den Vernünftigen und wenig Fordernden betrachtet. Und mich gefragt, woher die Kinder diesen Befehlston oder gar die Ignoranz haben, schließlich werden hier ja meine Bedürfnisse gerade komplett außer Acht gelassen.

Doch irgendwann hatte ich diesen Aha-Moment. Und ehrlich gesagt habe ich das immer mal wieder: diese augenöffnenden Situationen, bei denen mir mit voller Wucht ein überlebensgroßer Spiegel schwungvoll und mit Anlauf vors Gesicht geknallt wird. Und nach welchem man die Dinge plötzlich klar und deutlich vor sich sieht, zumindest, sobald man die Scherben zusammengefegt und ordnungsgemäß entsorgt hat. Staubsaugen dann bitte nicht vergessen…

Doch wovon spreche ich? Natürlich von unserer Sprache, der Sprache der Eltern bzw. der Hauptbezugspersonen. Wir leben den Kinder vor, wie sie sich verhalten können. Ja, absichtlich durchgestrichen!

Die Sprache unserer Kinder ist unsere Sprache

Es gibt dazu auch ein passendes Sprichtwort: „Wir können Kinder nicht erziehen, sie machen uns doch eh alles nach“. Und genau das ist der Punkt: wie wir mit den Kindern reden und umgehen, das schauen sie sich ab. Nicht das, was wir ihnen in den Mund legen wollen. Jedenfalls nicht, wenn wir selbst uns anders verhalten.

Spruch: "Sprache, die; -n (ein für die Erziehung unnützes Hilfsmittel, wenn das Vorgelebte stark vom Inhalt des Gesagten abweicht)"

Zurück zu meinem ersten Beispiel: „Nein, du sollst!“. Eine sehr starke Forderung, mag man meinen. Und klar, im Arbeitskontext würde ich schon komisch gucken, wenn mir mein Kollege das an den Kopf knallt. Tut er (zu seinem Glück) nicht. Die Kinder haben da weniger Skrupel. Also habe ich mich gefragt, warum die Kinder so fordernd sind. Bis mir auffiel, dass ich ihnen genau diese Worte immer und immer wieder vorgelebt habe.

  • „Möchtest du ein Buch aussuchen oder soll ich?“
  • „Soll ich dir noch mehr Nudeln auffüllen?“
  • „Schaffst du das oder soll ich dir helfen?“

Klar, dass diese Formulierungen dann irgendwann in Fleisch und … äh … Mund übergehen. Besser wäre es vielleicht gewesen zu fragen, ob ich kann oder darf. Oder ob das Kind möchte, dass […]. Gut, habe ich offenbar zu selten getan. Und nun ist das Kind in den Brunnen gefallen… Okay, ignoriert meine Sprichwörter besser! 🙄

Geduld und Prioritäten

Kommen wir noch zu dem zweiten Beispiel, in welchem mich das Kind warten lässt. Und das nicht nur einmal. Doch woher kommt dieses Gleichgültigkeit gegenüber meinen Bedürfnissen?

Die Wahrheit ist (vermutlich): da ist gar keine Gleichgültigkeit oder gar Ignoranz. Stattdessen aber eine Liste von Prioritäten. Denn in der Regel sind die Kinder gerade beschäftigt, wenn ich mit einer Bitte zu ihnen komme. Mit puzzeln, Paw Patrol, Pokémon, Sims oder einem Comicbuch. Und diese Aktivität beherrscht gerade das komplette Denken. Und somit auch das Handeln. Vertieft in diese Aktivitäten wird nur wahrgenommen, dass irgendwas getan werden müsste. Aber jetzt gerade ist ein echt ungünstiger Augenblick.

Im Prinzip verständlich, oder? Schließlich sitzen wir auch hin und wieder da und lesen gerade etwas, schreiben eine wichtige Mail oder stecken mit beiden Händen kopfüber im Klo, um die Halskette noch zu retten. Oder? Nicht…? Egal…

Womit auch immer wir gerade beschäftigt sind, wir können – oder wollen! – nicht immer aufspringen und den Wünschen der Kinder sofort nachkommen. Deshalb müssen diese kurz warten und etwas Geduld aufbringen. Und an eben dieser Stelle kommt die Sprache wieder ins Spiel. Statt also als Erwachsene*r mit „Ja, gleich“ zu reagieren, wäre vielleicht eine der folgenden Varianten sinnvoller:

  • „Lass mich noch das Kapitel zuende lesen, das dauert etwa 5 Minuten. Dann helfe ich dir (gern).“ –> konkrete Zeitangaben helfen bei der Orientierung und Planung (denkt doch nur mal ans Büro)
  • „Ich komme gleich zu dir, ich will nur noch schnell die Kartoffeln fertig schälen.“ –> Das Kind sieht einen Fortschritt, was gerade bei kleineren Kindern hilfreich sein kann, die kein Verständnis von Zeit haben
  • „Tut mir leid, gerade ist ganz schlecht. Und sag Mama mal bitte, dass ich mit den Händen feststecke und dringend Hilfe brauche.“ –> Wenn jetzt ein „Ja, gleich!“ kommt, ist doof. Und die Zeit für Änderungen reif!

Vielleicht hin und wieder die eigene Sprache hinterfragen

Titelbild für den Blogartikel über Sprache und Erziehung. Darauf die Wort: Vom irsinnigen Versuch, mit Worten zu erziehen

Ich möchte mit diesem Text niemandem vorschreiben, wie er oder sie zu reden hat. Viel lieber möchte ich meine persönliche Erkentniss mit euch teilen und euch dazu anregen, zu hinterfragen, wo die Ursachen für etwas liegen. Und über die Auswirkungen der eigenen Sprache und Kommunikation nachzudenken. Nicht sofort zu (ver-)urteilen.

Gerade Kinder sind hervorragende Spiegel und zeigen uns ungewollt, wie wir sind. Dafür sollten wir dankbar sein und die Gelegenheit nutzen. Wie genau? Das überlasse ich euch. Aber seid nicht (zu) streng mit euch 😉

Liebe Grüße
Martin…

PS: Hinterlasst mir gern weitere Beispiele für gespiegeltes Verhalten in den Kommentaren (egal ob in der Kommunikation oder etwas anderem). Vielleicht entdecke ich ja weitere Änderungsmöglichkeiten bei mir.

One thought on “„Du sollst!“ – Wie unsere Sprache die der Kinder beeinflusst

  1. Lieber Martin, vielen Dank für dieses wichtige Thema. Ich bin selbst Elterncoach und Vater eines kleinen Jungen. Ich gehe da voll mit deinen Worten mit und teile deinen Beitrag gerne. Obwohl ich Coach bin und ich es eigentlich besser wissen müsste, bin ich mir oft nicht bewusst, welche Worte ich wähle gegenüber meinem Kind. Am liebsten wäre mir, wenn ich schon auf jede Situation vorbereitet wäre um dann die richtigen Worte parat habe. 😉
    Aus meiner Erfahrung ist es auch das in Kontakt gehen mit dem Kind, d.h. nicht einfach durch den Raum zu rufen und zu erwarten das dies ankommt. Wenn ich ihm in die Augen schaue und seine Aufmerksamkeit habe, gelingt die Kommunikation viel besser. Dann finde ich meist auch die richtigen Worte. Ich glaube die Geschwindigkeit mit welcher wir heutzutage kommunizieren verhindern auch eine bewusst gewählte Sprache. Das erlebe ich auch mit meiner Frau, da wir natürlich ständig Orga -Themen haben und vieles besprechen müssen. Herzliche Grüße Mihály

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